Limited
Got Schimmel?
Die Theorie, Vergangenheit und Gegenwart eines Draftarchetyps
von Tobias "TobiH" Henke
21.05.2008

Ich hatte vor kurzem mal darauf hingewiesen, dass mein E-Mail-Postfach. jederzeit jedermann offensteht. Im Idealfall – so wie heute – führt das dazu, dass ich ein Thema finde, was mir sonst entgangen wäre, oder dass ich überhaupt eins habe.

Letzte Woche Mittwoch erreichte mich z..B. eine E-Mail von Ingo Muhs, seines Zeichens „Organized Play Manager“ bei Wizards of the Coast Deutschland. Sein Name wird euch in letzter Zeit des Öfteren auf PlanetMTG begegnet sein. Vermutlich gehört Öffentlichkeitsarbeit als solche nicht unbedingt zu seinem Aufgabengebiet, aber verkehrt kann es schließlich nicht sein, wenn der oberste Organisator der deutschen (und ja, auch der österreichischen) Turnierszene an Ort und (zur) Stelle ist.

Hier jedenfalls (in Auszügen) die entsprechende E-Mail:

Mit Begeisterung verfolgen wir [Wizards] ja deine, Andres und die weiteren Draftartikel auf PlanetMTG,...

(Sahne um den Bart, Honig ums Maul – so lob ich mir das!)

...aber da wir selber wenig zum Spielen kommen (wer sein Hobby zum Beruf macht, verliert es als Hobby), können wir mit einigen Archetypen nichts anfangen. Was ist z..B. „WG Schimmelhaufen“? (Inhalt eines Kühlschrankes in einer WohnGemeinschaft ist wohl nicht gemeint.) Ihr redet wie selbstverständlich davon... Gibt es einen klugen Artikel, wo die Typen kurz erklärt werden?

Nun, so einen Artikel. gibt es in der Tat, allerdings sind die Erklärungen dort wirklich kurz gehalten und absolut Shadowmoor-spezifisch. Gerade das Phänomen des sogenannten Schimmelhaufen-Draftdecks verdient und erfordert. jedoch mehr Hintergrundwissen... und gibt genug her, um ihm gleich einen ganzen Artikel zu widmen.
Gute Karten, schlechte Karten

Wieso ist eine Karte gut, wieso eine andere schlecht? Da muss man zwar notgedrungen ansetzen, besonders weit ausführen kann ich das Thema an dieser Stelle aber nicht. Es muss genügen zu wissen, dass es sich einerseits aus den Grundbedingungen des Spiels (in erster Linie der Größe der Anfangshand, den Startlebenspunkten und der Zugstruktur mit seinem stufenweise eskalierenden Spielaufbau) ergibt und andererseits...

Andererseits muss man gleich einmal relativieren! In Wahrheit gibt es nämlich bestenfalls bessere und schlechtere Karten. (Und selbst das ließe sich noch anzweifeln! Immerhin kann man zu jeder Karte eine Spielsituation erfinden, in der sie und nur sie optimal ist.) Somit bestimmt sich die Zuordnung einer Karte zu besser oder schlechter direkt aus den Alternativen, die sonst zur Wahl stehen.

Beschäftigen wir uns für den Moment einmal mit besseren und schlechteren Kreaturen: Blocken zwei 3/3-Kreaturen einen 4/4er, stirbt sowohl der 4/4er als auch einer der 3/3er. Zwei 2/2er, die einen 3/3er blocken, tauschen ebenso eins zu eins ab. Nach oben hin lässt sich das beliebig fortsetzen, lediglich das Verhältnis von 1/1 zu 2/2 bildet eine Ausnahme: Will man einen 2/2er mit 1/1ern niederringen, gehen dabei unweigerlich zwei Stück verloren.

Auf diesem Wege lässt sich theoretisch herleiten, was die meisten Spieler entweder in ausführlichen Praxistests herausfinden oder schlicht irgendwann eingebläut bekommen:

-Bärenmarke
„Die Power-2-Kreatur ist die kleinste ernstzunehmende Bedrohung.“

Keine Regel ohne Ausnahme! Natürlich gibt es auch ganz hervorragende 1/1er – zumeist welche, die direkt (Mogg Fanatic) oder indirekt (Silvergill Douser) mit 2/2-Kreaturen abtauschen können, oder solche, die gar nicht als Kämpfer eingesetzt, sondern zweckentfremdet werden. (Llanowar Elves beispielsweise wäre als globale Verzauberung mit gleicher Fähigkeit vermutlich stärker!)

Aber prinzipiell ist 1/1 erst mal schlechter... und zwar schlechter als jede andere Kreaturengröße, da logischerweise immer ein ganzzahliges Vielfaches vonnöten ist, um es mit einem beliebig widerstandsfähigeren Viech aufzunehmen. (Das erklärt zwar nicht, warum eine 2/1-Kreatur so viel besser ist, aber dafür müssen eben die Rahmenbedingungen der Anfangshand und -Lebenspunkte herhalten.)
Auftritt Schimmelhaufen

So, und jetzt vergesst alles, was ihr soeben gelesen habt!

Nein, wirklich. Das Schimmeldeck wirft alles über den Haufen, was man gemeinhin für gut hält. Es nutzt nicht etwa aus Verzweiflung, sondern bevorzugt 1/1-Kreaturen; außerdem allerlei weitere Karten, die einem vorteilhaften Abtauschen (was ich ja gerade erst durch die Hintertür als erstrebenswert impliziert habe) im Wege stehen. So enthält es Direktschadensquellen, die ausschließlich den Gegenspieler betreffen können, Pumpeffekte zum gleichen Zweck und sogenannte „Finisher“, wie beispielsweise Ember Gale – allesamt Karten, denen entweder unzweifelhaft der Makel des Kartennachteils anhaftet oder die zumindest derart genutzt werden können.

Alles zu einem Zweck: Extreme Geschwindigkeit. Denn nicht nur Kartenvorteil zählt, sondern eben auch, dieses Mehr an Karten irgendwie einsetzen zu können. Wenn das Spiel bereits vorbei ist, nützt selbst die vollste Hand nichts mehr.

Während diese Erkenntnis aber allgemeingültig ist, sorgt es normalerweise mitnichten dafür, dass 1/1er gespielt werden. Beim Schimmelhaufen sind andere Mächte am Werk...
Genesis 1,1

Im Anfang schuf... Nun, im Anfang schuf Wizards of the Coast mit dem Ravnica-Block eine äußerst eigentümliche Limitedumgebung. Nie waren Limiteddecks so bunt und nie war das Manafixing so gut wie damals.

Das allein begünstigte bereits Decks, die all ihre Investitionen in eine gute Manabasis eben auch in entsprechend „dicke“ Kreaturen und Zaubersprüche umzusetzen wussten. Obendrein gab es dann auch noch sehr viele, sehr mächtige Effekte.

Zu Ravnica-Zeiten waren Limiteddecks in der Regel also wahre Dinosaurier – und zwar nicht von der Velociraptor-Sorte, sondern langsam, schwerfällig, träge. Ausgerechnet diese Umgebung bildete allerdings den idealen Nährboden für eine dem grundlegend zuwiderlaufende Entwicklung: Schimmelhaufen gediehen prächtig. Zwar blieben sie zwischen all den konventionellen Decks die Ausnahme (selten konnten an einem Tisch mehrere Drafter erwarten, ein gutes Schimmeldeck zusammenzubekommen), waren dann aber höchst erfolgreich.
-Wieso eigentlich Schimmel?
Die Bezeichnung geht wahrscheinlich auf Maximilian Bracht zurück, der vor allem dafür berühmt-berüchtigt war, dass in seinem Mund selbst so harmlos anmutende Begriffe wie „Butter“ oder „mein Gegner“ zu Schimpfworten avancierten. Dabei ist „Haufen“ schon seit Urzeiten als Beschreibung für ein bunt und planlos zusammengewürfeltes Deck etabliert und „Schimmel“ als Bezeichnung für die vielen, vielen eigentlich schlechten Karten ja nicht ganz fernliegend.

2006 gewann Bracht die Deutsche Meisterschaft – u..a. mit einen grün-weißen Schimmelhaufendeck im Ravnica-Boosterdraft.

In anderen Draftformaten wäre das undenkbar gewesen – z..B. dort, wo Decks im zweiten Zug einen 2/2er legen; aber in einem Format, in dem in Turn 2 grundsätzlich erst ein Signet auf dem Plan stand, konnten 1/1er auf einmal eine Rolle spielen. Und zwar, weil sie eben genau nicht um eins kleiner/ein Mana billiger/einen Zug früher anwesend waren als anderes Vieh, sondern viel früher!

Während sich auf der einen Seite die typischen Ravnica-Drafter mit immer „voluminöseren“ Karten zu übertrumpfen suchten, war hier eine Strategie, die dem Treiben amüsiert, aber gleichgültig zusah, um ihrerseits den ganzen Bodensatz der Kartenqualität, den sonst niemand haben wollte, mühelos abzugrasen. Im Ergebnis entstand ein Deck, das schlicht und ergreifend so viel schneller zuschlug, dass die an und für sich weit besseren Kontrahenten wie unbeteiligt in die Ecke gestellt wurden.

Hier ein Beispiel für ein typisches Schimmelhaufen-Deck aus der Zeit:


7 Forest
7 Mountain
1 Gruul Turf

2 Simic Initiate
1 War-Torch Goblin
1 Frenzied Goblin
1 Skarrgan Pit-Skulk
1 Scab-Clan Mauler
2 Silhana Ledgewalker
2 Utvara Scalper
1 Gatherer of Graces
1 Transluminant
1 Sell-Sword Brute
1 Sabertooth Alley Cat
1 Gruul Scrapper
1 Viashino Fangtail

1 Seal of Fire
3 Taste for Mayhem
1 Galvanic Arc
2 Beastmaster's Magemark
1 Fencer's Magemark
1 Cackling Flames

Neben dieser rot-grünen Variante gab es im damaligen Format (bzw. spätestens mit dem Erscheinen von Dissension) noch grün-weißen und schwarz-roten Schimmel. (Diese Farben begegnen uns bald wieder...)
Wieso jetzt...?

Fassen wir noch einmal zusammen:

  • Es ist ein Phänomen; normalerweise ergeben schlechte Karten nämlich sehr wohl schlechte Decks.
  • Die Strategie ist deshalb nur in sehr extremen Umgebungen gangbar.
  • Ravnica war eine solche Umgebung.

  • Wieso um alles in der Welt leidet dann ausgerechnet Shadowmoor wieder unter Schimmelbefall? Extreme Kontrollmonstrositäten sind hier ja nun wirklich nicht an der Tagesordnung? Warum also hier und jetzt? Beziehungsweise, wo liegt der Unterschied?

    Nun, der entscheidende Unterschied zwischen den Schimmeldecks des Ravnica-Formats und denen des Shadowmoor-Formats liegt meines Erachtens zum Teil in der Kartenqualität.

    Betrachten wir z..B. die 1-Drops des Sets, dann fällt schnell auf, dass sie zwar nicht so zahlreich vorhanden sind (was teilweise bereits durch das Hybridthema ausgeglichen wird), dafür aber in der Spitze eine höhere Qualität erreichen:


    Die Initiates – zumindest diese drei; der blaue ergibt ein Kombodeck, der weiße macht gar nichts – sind die All-Stars der aktuellen Schimmelhaufen. Auf den ersten Blick wirken sie wie die 1/1-Taugenichtse von eh und je, aber wenn man mit ihnen im richtigen Deck spielt, stellt man fest, dass sie direkt oder indirekt drei bis acht Schadenspunkte verursachen. (Indirekt natürlich vor allem der rote, den ich mittlerweile übrigens für den stärksten halte.)

    Das „Color matters“-Thema von Shadowmoor und die höhere Manastabilität sorgen außerdem dafür, dass Manaforge Cinder, Elvish Hexhunter und Scuzzback Scrapper selbst ohne wirklich interessante Fähigkeit absolut spielbar sind. Nicht mal Heap Doll ist strenggenommen unspielbar, kann man damit doch die ärgerlichen Comeback-Versuche von Persist-Kreaturen untergraben. Und wenn man im Uncommon-Bereich auf Tattermunge Maniac und Seedcradle Witch stößt, ist eh alles gut!

    Und natürlich gibt es einen weiteren Grund, warum der Schimmel in Shadowmoor wieder zum Vorschein kommt: Conspire!


    Neben den Initiates und der Conspire-Mechanik (hier fehlt Traitor's Roar) schlägt noch der Duo-Zyklus (Emberstrike Duo usw.) und die Auren (Shield of the Oversoul etc.) in dieselbe Kerbe. Sowohl die Initiates als auch die Duos als auch Conspire, als auch die Auren verlangen explizit und vehement nach Decks mit vielen, kleinen, passend farbigen Kreaturen. (Und Erstere sind sogar selbst welche!)

    Während zu Ravnica-Zeiten Schimmelhaufen ihre mangelnde Kartenqualität einzig und allein durch herausragende Geschwindigkeit ausglichen, entwickeln die Billigsten der billigen Shadowmoor-Karten im Zusammenspiel also selbst eine hohe Qualität. Genau genommen ist somit die abwertende Bezeichnung für sie unpassend.
    Abschließend...

    Wie ihr schon oben an der Kartenauswahl gesehen habt, kommt der Schimmel im aktuellen Draftformat zufälligerweise ebenfalls wieder in den Farbkombinationen Weiß-Grün, Grün-Rot und Rot-Schwarz vor. Hier ein (recht ideales, aber nicht unrealistisches) Beispiel für Ersteres:


    2 Nurturer Initiate
    1 Seedcradle Witch
    1 Elvish Hexhunter
    1 Scuzzback Scrapper
    2 Somnomancer
    1 Medicine Runner
    1 Safehold Elite
    2 Safehold Sentry
    1 Gloomwidow
    2 Hungry Spriggan
    1 Wilt-Leaf Cavaliers
    1 Ballynock Cohort
    1 Safehold Duo
    1 Raven's Run Dragoon

    8 Plains
    8 Forest

    1 Viridescent Wisps
    2 Barkshell Blessing
    1 Shield of the Oversoul
    2 Giantbaiting

    So, das war's von mir für diese Woche. Schaltet aber auch am nächsten Mittwoch wieder ein, wenn's – aller Voraussicht nach – den Monatsrückblick bereits etwas schneller gibt.

    Bis dahin tappt für euch weiter im Dunkeln...

    TobiH
    #399
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