Eine meiner absoluten Lieblingsgeschichten von der letzten Deutschen Meisterschaft war jene von dem ersten Aufeinandertreffen von Harald Stein und Garruk Wildspeaker... Harald hatte offenbar länger kein Magic gespielt und hatte noch nie live einen Planeswalker gesehen. (Außer im Spiegel, selbstverständlich.) Seine Reaktion muss ungefähr irgendwie ausgefallen sein, auf jeden Fall einigermaßen überrascht.
Gehen wir einmal davon aus, auf der diesjährigen DM gäbe es wieder so einen Spieler. Einer, der nach längerer Pause aus der Versenkung zurückkehrt. Wie würde sich wohl seine Verwunderung über die neuesten Neuerungen zum Ausdruck bringen? Nun, ich denke, er würde fragen, warum auf einmal alle so hundsmiserabel zocken! Und die Antwort darauf lautet natürlich: Weil die neuen Regeln einen dazu zwingen!
(Klingt das eigentlich genauso absurd, wie es sich anhört?)
Die Rede hier ist natürlich vom Wegfall des Combat-Damage-Stacks. Das ist angeblich eine dringend benötigte Änderung, um das Spiel intuitiver und leichter erlernbar zu gestalten. Mein Problem mit dieser Argumentation hat sehr direkt mit der obigen Geschichte zu tun. Tatsächlich kann man problemlos Magic spielen (Hunderte Partien, sein ganzes Leben lang...), ohne jemals Damage auf den Stack zu legen. Es ist lediglich taktisch unklug.
Easy to Learn, Hard to Master
Es wird oft zitiert, dass ein Spiel dann besonders gut sei, wenn es einfach zu erlernen, aber schwierig zu meistern ist. Magic ist eindeutig nicht einfach zu erlernen. Es ist schwierig. Eine Vereinfachung muss also begrüßenswert sein, richtig?
Tja, so simpel ist es eben nicht. Es geht mir gar nicht darum, jegliche Vereinfachung als solche zu verteufeln. Vielmehr will ich die Frage stellen, ob diese Änderung an der richtigen Stelle ansetzt. Wenn man Magic lernt, lernt man das Konzept von gestacktem Kampfschaden wahrscheinlich nicht sofort und möglicherweise gar nicht. Aber ist das ein Problem?
Es wurde gesagt, ja, das ist ein Problem, weil alle Spieler nach denselben Regeln spielen sollen.
Dass alle Spieler nach denselben Regeln spielen sollen, will ich überhaupt nicht anzweifeln. Wer unter den aktuellen Regeln den Kampfschaden nicht explizit auf den Stapel legt, macht aber nichts falsch! Er spielt nach denselben Regeln, er benutzt lediglich einen ausdrücklich erlaubten Shortcut.
In Wahrheit ist das genau der Punkt: Man kann ohne Combat-Damage-Stack spielen, man kann ohne nur nicht gut spielen. Gestackter Kampfschaden (und die zugehörigen Tricks) fallen nicht in den Bereich „easy to learn“ – sie fallen in den Bereich „hard to master“. Eine Partie ohne regeltechnische Fehler zu absolvieren, sollte möglichst einfach sein, eine Partie ganz ohne Fehler strategischer und taktischer Natur zu absolvieren, schier unmöglich! Ersteres wird durch die Änderung nicht verbessert, Letzteres jedoch eventuell verschlechtert.
Aber, wurde gesagt, das ist trotzdem noch ein Problem; dann nämlich, wenn der Gegner eines neuen Spielers auf einmal Kampfschaden auf den Stapel legt und damit fiese Tricks macht.
So, wie ich das sehe, gibt es drei mögliche Fälle: 1) Spieler, die alle keine Ahnung von gestacktem Kampfschaden haben, spielen miteinander. Es gibt kein Problem. 2) Spieler, die keine Ahnung haben, und Spieler, die Bescheid wissen, treffen aufeinander. Erstere lernen von Letzteren, wie es funktioniert. Es gibt kein Problem. 3) Spieler, die keine Ahnung haben, und Spieler, die Bescheid wissen, treffen aufeinander. Erstere sind nicht bereit zu lernen und hängen Magic an den Nagel. Houston, Houston! Wir haben ein Problem...
Aber das Problem besteht doch nicht für neue Spieler generell! Lediglich lernunwillige Spieler werden von dieser Hürde effektiv abgeschreckt. Es wäre natürlich schön, wenn dem nicht so wäre, aber ein Strategiespiel ist dafür einfach das grundsätzlich falsche Produkt! Magic ist (und bleibt) voll von Dingen, die man lernen muss. Für Leute, die nicht lernen wollen, gibt es haufenweise negative Erfahrungen. (Etwas zu lernen, selbst durch eine Niederlage, ist per Definition schon eine positive Erfahrung.) Es funktioniert nicht. Man kann diese Zielgruppe unmöglich mit Magic ansprechen oder halten.
Es wurde gesagt, spielerisches Können, nicht bloßes Regelwissen soll über den Ausgang einer Partie entscheiden.
Ach, und Mishra's Factory wird 2/2, obwohl Humility im Spiel auf dem Battlefield liegt? Und wenn Magus of the Moon noch dabei ist, hat der zwar keinerlei Fähigkeiten, aber die Factory ist trotzdem ein Gebirge? (Oder nicht? Wer weiß das schon?) Prinzessin Layer ist wahrlich ein kapriziöses Geschöpf...
Regelkenntnis entscheidet Spiele. Das ändern auch die neuen Regeln nicht. Entscheidet Regelkenntnis in Zukunft vielleicht weniger Spiele? Nicht wesentlich. Wenn man davon ausgeht, dass lernunwillige Spieler Magic nicht lange treu bleiben und dass lernwillige eben lernen, dann ist der Bruchteil derjenigen Spiele, die bislang von Kenntnis dieser Regel entschieden wurden, gegenüber der Gesamtzahl aller Spiele verschwindend gering.
Einerseits – Andererseits
Einerseits fallen mit den Regeländerungen sehr viele Optionen weg, andererseits muss man jetzt neue knifflige Entscheidungen treffen. Einerseits wird die Bedeutung der alten Tricks bereits jetzt nostalgisch überhöht, andererseits erscheinen die neuen Tricks komplizierter, weil sie noch ungewohnt sind. Einerseits eliminiert ein Wegfall von taktischen Optionen Fehlermöglichkeiten, andererseits wird es schwieriger die richtige Wahl zu treffen, wenn die 08/15-Option nicht zur Verfügung steht.
Büßt Magic etwas seiner strategischen Tiefe ein? Auf jeden Fall. Gewinnt Magic strategische Tiefe hinzu? Auch das.
Was von beidem überwiegt, weiß ich nicht. Und ihr auch nicht. Nicht wirklich zumindest. Mittlerweile denke ich, es wird auf ein Unentschieden hinauslaufen. Oder in ein paar Monaten auf eine Einstellung des Verfahrens mangels öffentlichem Interesse.
Die gute Nachricht
Die gute Nachricht ist, diese Änderungen werden nur relevant, wenn doppelgeblockt wird oder wenn Pumpsprüche, Bounce, Blink, Damage-Prevention, Removal oder aktivierte Fähigkeiten involviert sind.
Hmm...
Na gut, die wirklich gute Nachricht ist, vieles davon wird ohnehin seltener vorkommen als bisher! Und zwar weil es einige Effekte jetzt öfter nicht in euer Deck schaffen werden.
Äh...
Nein, tut mir leid. Hier gibt es einfach keine gute Nachricht. Die Wahrheit ist, dass sehr viele Karten deutlich schwächer werden. Das ist bisher die relevanteste Auswirkung, die ich sehe, und ich halte sie nicht für positiv. Es wurde argumentiert, dass Mogg Fanatic, Momentary Blink oder – im Limited – Call to Heel sicher nicht völlig unspielbar werden, und das stimmt. Außerdem wurde festgestellt, dass andere Karten relativ gesehen stärker werden, wenn die betroffenen jetzt schwächeln, und dass das ganz interessant sein mag. Auch das stimmt. Aber ein lustiges Durcheinanderwirbeln des Powerlevels zahlreicher Karten ist kein Selbstzweck. Es ist kein großes Minus, wohl aber ein Minus.
Das Urteil
Okay, fassen wir einmal zusammen: Da hätten wir einmal einen Vorteil, dessen Vorteil nicht klar ersichtlich ist. Weiterhin wäre da ein Unentschieden. Und schließlich noch ein Nachteil, der nicht gewaltig, aber eben existent ist.
Man muss kein Genie sein, um zu sehen, worauf das hinausläuft: Die Änderung ist keine Katastrophe, doch das muss sie auch nicht sein, um sie abzulehnen. Dafür reicht schon, dass sie nicht gut ist.
Aber halt! Es gibt ein Aber. (Es gibt immer ein Aber.) Wizards behaupten, ihre Marktforschung liefert ihnen andere Ergebnisse. Offenbar sind die Unintuitivität der bisherigen Kampfregelung und die negativen Erlebnisse, die damit im Zusammenhang stehen, ein wesentlich größerer Faktor, als ich ihnen eingangs zugestanden habe. Sind sie das? Ich weiß es nicht. Weder habe ich ihre Daten noch könnte ich sie auswerten, wenn ich sie hätte. Allerdings habe ich keinen Grund, Wizards Motive infrage zu stellen. Es gibt sicherlich keine große Verschwörung innerhalb der Firma. Ganz im Gegenteil liegen ihre Ziele auf der Hand: Sie wollen Magic-Karten verkaufen – möglichst viele, wenn's recht ist.
Ich habe übrigens irgendwo den Vorwurf gelesen, dass Wizards in Wahrheit doch nur noch den letzten Saft aus einem sterbenden Produkt herauspressen wollten. So ein Unsinn! Wenn sie das wollten, gäbe es gerade nichts Schlechteres als eine umstrittene Regeländerung, die für Unmut unter alteingesessenen Spielern sorgt. Vielmehr ist sie ein starkes Indiz für langfristige Planung.
Der Pfad zur Hölle ist bekanntlich mit guten Vorsätzen gepflastert und daher bleibt die Frage, ob Wizards vielleicht einfach zu dumm sind, um den Mist, den sie im Moment verzapfen, als solchen zu erkennen. Glaube ich nicht. Ihre Erfolgsbilanz ist sicher nicht makellos, aber doch beeindruckend. In jedem Fall ist es absurd, anzunehmen, dass ich es besser wüsste. Im Internet findet sich zwar eine riesige Menge an kritischen Stimmen, aber da darf man wiederum den Mob-Faktor nicht außer Acht lassen. (Der besagt schlicht, dass sich die Intelligenz von Einzelpersonen in einer Menschenmenge keinesfalls addiert.)
Trotzdem, Wizards spielen in dieser Debatte nicht fair. Stellen wir uns vor, die Argumente auf beiden Seiten wären Magic-Karten, dann hat die eine Seite lauter Hill Giant, sie aber haben lauter Morph-Kreaturen! Alle öffentlich verfügbaren Informationen deuten darauf hin, dass ihre Position unterlegen ist. Aber wie heißt es so schön: Ob ihr wirklich richtig steht, seht ihr, wenn sich der Morph umdreht.
Ich werde jetzt bestimmt nicht hergehen und blindes (Gottlieb-) Vertrauen predigen. Und persönlich ist mir das zuletzt gebrachte Totschlagargument zutiefst zuwider. Mit dem Anspruch kritischen Denkens und eigener Meinungsbildung ist es in keinster Weise vereinbar. Dennoch macht man es sich zu leicht, wenn man es kategorisch ablehnt.
Deshalb belasse ich es dabei: bei eigener Meinungsbildung. Die Geschworenen sind zu keinem einstimmigen Urteil gekommen. Ich habe lange in die eine Richtung tendiert, kurz in die andere, aber letztlich bleiben so oder so berechtigte Zweifel.
No Big Change, No Big Deal?
Eins weiß ich jedoch genau: Ich habe bereits ein wenig mit den neuen Regeln gespielt, ich habe sehr viel darüber nachgedacht und ich habe viel zu viel darüber gelesen – und in jedem dieser Fälle lautet die Erkenntnis, dass es sich nicht um eine dermaßen große Änderung handelt. Oft merkt man den Unterschied gar nicht. Entweder die neuen Regeln kommen nicht vor oder führen sogar zum gleichen Ablauf/Ergebnis wie bisher. Und selbst wenn die Regeln unzweifelhaft schlecht wären, wären sie keinesfalls ausreichend, um Magic zugrunde zu richten.
Wurde also aus einer Mücke ein Elefant gemacht, wie sehr viele Kritiker der Kritiker meinen? Es ist keine große Veränderung... aber ist es von großer Bedeutung?
Ich finde Leute, die behaupten, es sei keine große Sache („no big deal“), beunruhigender als jene, die rufen, dass Magic jetzt untergeht. Objektiv ist es keine große Änderung, ja – aber es ist verdammt noch mal sehr wohl ein „big deal“! Und das sollte es auch sein.
An dem Tag, an dem die „Magic ist tot“-Rufe verstummen, muss man anfangen, sich Sorgen zu machen. Tatsächlich gibt es nichts, NICHTS, was so sehr die Vitalität von Magic unter Beweis stellt, als Hunderte oder Tausende Weltuntergangspropheten, die das nahe Ende verkünden.
In diesem Sinne: Magic ist tot, es lebe Magic!
TobiH
#482
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