Community
Das Spiel ohne die Karten
von Sebastian Knörr
24.09.2010

Magic ist nicht nur ein Spiel, welches man auf technischer und strategischer Ebene perfektionieren kann, sondern auch auf mentaler Ebene. Der psychologische Aspekt, den unser geliebtes Spiel enthält, fällt leider viel zu oft unter den Tisch. Dabei ist das Spiel mit dem Gegner ebenso wichtig wie das Spiel mit den Karten!

Heute versuche ich etwas darauf einzugehen, wie viel Einfluss das Verhalten der Spieler in einem Magic-Duell wirklich haben könnte. Zum Einsteig bringe ich eine Situation, die jeder in irgendeiner Form so oder so ähnlich mal erlebt hat:


Wir spielen Storm-Kombo mit Tendrils of Agony als Win-Condition, der Gegner ein blaues Fish-Deck. In unserer Situation können wir früh in die Kombo gehen und gewinnen – einziges Problem ist: Der Gegner hat ein blaues Mana frei. Wir wissen er spielt vier Stifle. Wenn er eins davon hat, verlieren wir an der Stelle sofort, hat er es nicht, gewinnen wir. Alternativ haben wir die Möglichkeit abzuwarten; vielleicht ziehen wir einen Duress oder eine Force of Will nach. Doch die Situation würde zunehmend schlechter werden, da das gegnerische Deck tonnenweise andere Disruption spielt und sich mit jedem Drawstep seine Chance erhöht, ein Stifle zu ziehen.

Fazit: Das statistisch richtige Play ist, hier in die Kombo zu gehen, da die Wahrscheinlichkeit, dass er Stifle hält, (vereinfacht) nur maximal 45% beträgt. Somit gewinnen wir 55% der Fälle. Ein Computer, der auf strategisch/statistisch korrektes Spiel programmiert wäre, gewinnt also an genau dieser Stelle von 100 Spielen 55, 45 verliert er.

Ist das gutes Spiel? Sind wir damit zufrieden? Nein, natürlich nicht.

Gerade diese Spielsituation zeigt, dass es manchmal auf mehr Faktoren als bloße Statistik ankommt. Einen guten Read auf den Gegner zu haben, ist unablässig. Magic-Spieler geben eine Menge an Informationen unbewusst an die Umwelt ab und diese sollten wir uns zunutze machen. Aber was kann man aus einem Menschen überhaupt ablesen?


Es beginnt bereits bei der Wahl der Starthand. Eine Starthand zu ziehen, bedeutet bei den meisten Spielern Anspannung und Aufregung. Es ist ja auch wirklich total spannend zu sehen, mit welchen Goodies man den folgenden Kampf bestreiten darf. Doch genau diese Anspannung veranlasst Menschen dazu, viel über sich preiszugeben, weil Emotionen nun einmal kochen. Ziehen wir eine gute Starthand, sehen wir förmlich, wie wir unseren Gegner zerschmettern werden, und wir stoßen ein selbstbewusstes oder erleichtertes „Keep“ aus. Meistens kommt die Ansage auch ziemlich schnell, fast wie aus einer Pistole geschossen, weil die innere Freude über die gute Starthand weiteres Nachdenken obsolet macht.

Als Gegner dieses emotionsgeladenen Menschen wiederum sind wir natürlich nicht sonderlich erfreut, können aber das Wissen, was wir über das gegnerische Deck bereits haben, nutzen und im Kopf bereits das Worst-Case-Szenario durchspielen. Folglich umspielen wir jeden möglichen Trick und verhalten uns defensiver, nicht zuletzt um durch gute Drawsteps zum Draw des Gegners aufzuschließen.


Die schlechte Starthand beim Gegner drückt sich durch die verschiedensten Emotionen aus, aber alle davon sind klar von denen der guten Starthand zu unterscheiden. Einige Spieler fallen in eine „Was soll ich tun?“-Stimmung, weil sie nicht wissen ob sie halten sollen oder einen Mulligan nehmen müssen. Das Halten der Starthand kommt dann meistens unsicher oder mit einer Geste, die so etwas aussagt wie „ich kann doch nichts dafür“, andere fangen an, sich zu ärgern, wenn sie bereits einen Mulligan genommen haben und ihre Starthand nicht den gewünschten Kick bringt. Wieder andere resignieren bereits und geben innerlich auf.

Wie reagieren wir? Wir zerschmettern sie, spielen offensiv und um wenige Tricks herum. Durch ihr Verhalten verringern sie ihre Chancen signifikant, das Spiel zu gewinnen.

Jetzt stelle man sich also vor, dass wir nach einem total überzeugten Keep vorsichtig spielen. Wir versuchen Tricks aus dem Weg zu gehen und wir tauschen nicht aggressiv ab. Der Gegner hat uns aber einfach ausgeblufft und in Wahrheit eine katastrophale Starthand gehalten. Zum Beispiel sechs Länder und Ancient Hellkite. Die Chance, dass er mit dieser Starthand gewinnt, ist zwar so oder so nicht besonders hoch, aber die Tatsache, dass wir vielleicht um Pyroclasm herumspielen oder Barony Vampire nicht gegen den nachgezogenen Goblin Piker tauschen wollen, erhöht die Wahrscheinlichkeit immens, dass der Drache auch wirklich das Spiel betreten wird. Und vielleicht gewinnt ebendieser Drache dann ja doch …


Im Spiel selbst ist das richtige Verhalten ebenfalls essenziell. Meist verläuft ein Spiel nicht genau ausgeglichen. Ein Spieler liegt vorne, der andere hinten. Zeigt nicht, in welcher Position ihr euch befindet! Statdessen versucht, dem Gegner genau die gegenteilige Lage zu verkaufen. Es sind dieselben Gründe wie bereits beim Anblick der Starthand. Ein Gegner, der spürt, dass ihr nichts mehr habt, wird seine Removal-Spells aggressiv auf eure Blocker werfen, er wird kaum noch Tricks umspielen, er wird alles nachlegen, was er hat, und so weiter.

Stellt euch nun vor, ihr habt mit eurem UW-Draftdeck soeben frustriert das siebte Land ausgelegt und dann mit verzogener Miene den 2/5er gespielt. Ihr vermittelt dem Gegner so, dass euer Draw euch nichts hergibt. Fast beleidigt davon, wie einfach ihr zu besiegen seid, spielt euer Gegner also seine Doom Blade auf euren Blocker, um richtig Schaden zu machen. Er hat euch abgekauft, dass ihr nichts mehr habt. Ihr aber legt den zurückgehaltenen Vengeful Archon


Fazit

Zeigt eurem Gegner genau die falsche Position an. Verliert ihr, dann lasst ihn um jede erdenkliche Karte herumspielen. Im Folgenden nenne ich kurz ein paar Möglichkeiten, wie ihr es schafft, ein Spiel in die Länge zu ziehen, ohne dass ihr dafür irgendwelche Magic-Karten braucht:

1)

Offenhalten von Mana: Hierfür müsst ihr die gängigsten Tricks und Spontanzauber des Formats kennen. Tappt euer Mana bewusst so, dass bestimmte Tricks offensichtlich zu erahnen sind. Legt diese Länder am besten in Bündel zusammen oder, um es noch deutlicher zu machen, vertappt euch, und dann tappt noch einmal um. Gängige Karten, die der Gegner umspielen könnte, sind in M11 zum Beispiel: Mana Leak, Cancel, Condemn (der Gegner greift vielleicht nicht mit seiner stärksten Kreatur an), Giant Growth/Thunder Strike/Mighty Leap, Safe Passage, Day of Judgment.

Das Offenhalten von Mana für „harte“ Removalspells wie Doom Blade, Chandra's Outrage etc. ist dagegen meist nicht besonders sinnvoll, da der Gegner sie ja ohnehin selten umspielen kann.

2)

Hat der Gegner Angst vor einem ganz bestimmten Spell, dann seit enthusiastisch, habt die Finger bereits oben rechts an der Karte, als wolltet ihr sie übereifrig ausspielen. Es benötigt sicherlich ein Menge Übung, diesen Bluff auch glaubwürdig rüberzubringen. Kauft der Gegner euch aber den Spell ab, erzielt ihr meist ordentlich Tempovorteil, ohne eine Karte ausgespielt zu haben.

3)

Lasst möglichst viele Pausen und unterbrecht das Spiel an vielen Stellen, wo ihr potenziell einen Instant anbringen könntet. Ihr braucht euch dabei nicht einmal einen spezifischen Ausdenken. Es ist gerade sehr effektiv, wenn der Gegner eine ganze Zeit lang nicht weiß, was ihr denn Gemeines habt, was ihr euch die ganze Zeit aufspart.

Seid ihr am Gewinnen, dann ist doch eigentlich alles schön und gut, oder nicht? Nicht ganz. Hier ist wieder der Read auf den Gegner wichtig. Es gibt zwei Möglichkeiten, eine gute Starthand zum Sieg zu führen. Beide hängen davon ab, was der Gegner signalisiert. Wenn wir glauben, der Gegner hat eine schlechte Hand, dann legen wir unsere Manakurve aus, bringen seine Blocker um und fahren den Sieg mit unserem überlegenen Draw schnell ein. Dies ist der einfache Fall.

Hat der Gegner stattdessen ebenfalls einen guten Draw, machen wir es genau andersherum. Wir legen immer nur genau so viel aus, dass das Spiel nicht zu sehr kippt, wir sparen unsere Removal für die wirklich gefährlichen Karten, wir spielen unsere Karten der Stärke nach aufsteigend aus. Wir spielen dann um vieles herum und versuchen, herauszubekommen, worauf der Plan des Gegners hinauslauft. Hier geht es vor allem darum, den Gegner zu überraschen.

In Kurzform: Wir möchten dem Gegner das ganze Spiel über verkaufen, dass wir (knapp) verlieren. Dies sollte ihn dazu veranlassen, sein Removal und seine Tricks für unsere mittelmäßigen Karten auszugeben und seine Bombe früh auf den Tisch zu klatschen. Wenn wir sehen, dass unser Gegner sich verausgabt hat, schlagen wir zu. Wir entsorgen seine Bombe, legen unsere und drehen das Spiel. Mit einer Reihe von Verhaltensweisen lässt sich diese scheinbare Losing-Position untermauern:

1)

Die Karten, die ihr ausspielt, sind nicht die mächtigsten, aber gerade stark genug, das Spiel nicht kippen zu lassen.

2)

Ihr meckert oder resigniert, wenn der Gegner eine weitere gute Karte gespielt hat, obwohl ihr diese beantworten könnt.

3)

Das frustierte Klopfen aufs Deck ermutigt viele Gegner dazu, ihr Removal offensiv einzusetzen.

4)

Immer wenn ihr mit einem Spruch, den ihr euch für diese ideale Situation zurückgehalten habt, gut abtauscht oder den gegnerischen Drop deklassiert, dann erzählt ihr eurem Gegner, wie lucky ihr getopdeckt habt.

Ich weiß, das klingt alles sehr nach Bauernregeln. Aber es ist erstaunlich, wie oft einem so etwas weiterhilft. Das liegt wahrscheinlich daran, dass sich viele Spieler gar nicht bewusst sind, wie sehr der psychologische Aspekt ihr Spiel beeinflusst.

Bei steigendem Niveau ist es offensichtlich nicht mehr ganz so simpel. Hier habe ich persönlich gute Erfahrungen mit Doppelbluffs gemacht. Bei einem Doppelbluff verkaufe ich dem Gegner, dass ich eine bestimmte Karte habe, die ihn gerade stört und die ich auch tatsächlich habe. Ich verkaufe sie ihm aber dermaßen offensichtlich, dass der Gegner glaubt, ich bluffe aus den oben genannten Gründen, und mir voll die Arme spielt. Allerdings braucht man eine Menge Feingefühl dafür, so einen Doppelbluff erfolgreich anzubringen. In der Theorie ließe sich das Ganze außerdem noch auf Drei- oder sogar Vierfachbluffs erweitern, die Praxis zeigt jedoch, dass alles, was über Level 2 hinausgeht, so selten funktioniert, dass es die Mühe einfach nicht lohnt.

Ich denke, auf diesem Gebiet ist für viele Magic-Spielern noch massig Luft nach oben. Auch diejenigen, die schon eine ganze Weile wissen, wie sie ihr Verhalten dem Spiel anpassen, können immer noch ein wenig dazu lernen, vor allem in Bezug auf Bluffs und Doppelbluffs.

Unbewusste Kommunikation ist ein riesengroßes Thema, das ich heute wirklich nur ganz grob anreißen konnte. Nicht umsonst werden haufenweise Bücher dazu veröffentlicht. Ich hoffe aber, ich konnte wenigstens noch einmal in Erinnerung rufen, dass dies ein interessanter und wichtiger Faktor des Spiels ist und ein paar grundlegende Vorteile beschreiben, die man aus gewonnenen oder falsch gegebenen Informationen ziehen kann.

Zum Abschluss zwei kleine Anekdoten:


1) Mana Pools of the Forge

Ein großer deutscher Spieler, wir nennen ihn David Brucker, brauchte unbedingt einen Sieg aus dem laufenden Spiel, doch seine Boardposition verschlechterte sich Zug um Zug. Es war das Mirrodin-Darksteel-Limitedformat und Brucker hatte ein sehr rotlastiges Deck in den Händen. Acht Lebenspunkte trennten ihn von seinem Sieg, ihm selber verblieben noch um die sechs, welche der Gegner im folgenden Zug sehr wahrscheinlich auslöschen würde. Aber er hatte ja noch eine Handkarte und ziemlich viel Mana zur Verfügung

Er nahm sich am Ende des gegnerischen Zuges Mana in den Pool, nicht um etwas zu spielen, sondern um sich selbst per Manabrand auf weniger Lebenspunkte zu bringen. Zu seinem Glück war auch sein Gegenspieler kein unbeschriebenes Blatt und der schloss darauf, dass Bruckers letzte Handkarte Pulse of the Forge sein müsse. Dieser würde ihm nämlich tatsächlich genau acht Schadenspunkte machen und war offenbar die einzige Karte, mit der Bruckers Vorgehen irgendeinen Sinn ergab. Kurzerhand entschied er sich dafür, ebenfalls Mana in den Pool zu ziehen. Am Ende ging Brucker auf eins und sein Gegner auf fünf. Letzterer war stolz wie ein Honigkuchenpferd – er hatte den Pulse of the Forge erfolgreich entschärft.

Doch nun zeigte Brucker seine letzte Handkarte: Shrapnel Blast!


2) Trash Talks

Ein anderer bekannter deutscher Spieler, wir nennen ihn hier TrashT, befand sich in einer ähnlichen Lage, er musste jedoch kein Limited-Duell gewinnen, sondern ein Spiel im Odyssey-Block-Constructed. Er spielte Psychatog, sein Gegner Upheaval/Zombie Infestation. In diesem Matchup ging es darum, ob Letzterer es schaffen würde, ein Upheaval an Trashs Countern vorbeizuschleusen und dann eine Zombie Infestation nachzulegen und mit dieser zu gewinnen.

Normalerweise sollte es ja schaffbar sein, eine 6-Mana-Hexerei vom Tisch zu halten – wenn die superstarke Cabal Therapy nicht noch mit von der Partie gewesen wäre! Im allesentscheidenden Zug hatte Trash viel Mana, einige Handkarten und einen Psychatog, der im nächsten Zug gewinnen würde. An Countern hatte er bisher lediglich eine Circular Logic gespielt. Sein Gegner verfügte über noch mehr Mana und außerdem über die Möglichkeit, jetzt ganze vier Mal Cabal Therapy vorwegzuspielen und damit Upheaval/Zombie Infestation durchzubringen.

„Sag mal, spielst du eigentlich auch Envelop?“, fragte er und Trash darauf: „Ja klar, ich hab vier Stück auf meiner Hand!“

Der Gegner war amüsiert und spielte seine erste Therapie. Kein Counter von Trash. Für die Therapie wurde Circular Logic benannt, der andere Gegenzauber, den Trash wenigstens sicher im Deck hatte. Doch auf TrashTs Hand befand sich keine Circular Logic, dafür aber die besagten vier Envelop. Und vier Envelop waren nun genau ausreichend, um die verbliebenen drei Therapien und das Upheaval zu neutralisieren. Hätte er die erste Cabal Therapy gecountert oder hätte sein Gegner Envelop genannt, hätte Trash sicher verloren. So gewann er – dank Doppelbluff.
-------gggggggggggggggg--------------