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Nostalgin
von Tobias "TobiH" Henke
25.05.2009

Ein weiser Mann sagte dereinst: „Alt werden ist doof, nicht alt werden aber auch.“

In letzter Zeit stelle ich immer öfter fest: Ich werde alt. Insbesondere fällt mir das auf, wenn ich Magic, vor allem Standard-Decks, aus früheren Tagen mit dem Magic von heute vergleiche.

Nostalgie

Gedanken an... früher... Die bestehen bekanntermaßen immer aus zwei Teilen Verklärung, einem Teil schlechtes Gedächtnis und hin und wieder einem Körnchen Wahrheit.

Magic ist nicht mehr das, was es einmal war. Und das ist in unglaublich vielerlei Hinsicht gut so! Ob das Spiel, das ich damals kennengelernt habe, mich heute noch begeistern könnte, ist hochgradig zweifelhaft. Von einem weltweiten Publikum ganz zu schweigen, zumal bei neuzeitlichen Alternativen. (Sätze ohne Prädikat sind in Mode, habe ich gehört.) Trotzdem hat ein Rückblick seine Berechtigung und bestimmt ist auch nicht alles gut, was neu ist.

Wenn ihr das hier lest und noch nicht lange an der Karte hängt, dann wird euch dieser Artikel möglicherweise kaum etwas zu bieten haben. Wenn ihr schon ewig dabei seid, vielleicht genauso wenig. Und falls ihr euch nicht für Turnierspiel und Turnierdecks interessiert, dann erst recht nicht. Dennoch habe ich in letzter Zeit mit zahlreichen Spielern ähnlich gerichtete Gedanken ausgetauscht und die will ich hier in erster Linie einmal ordnen. Beginnend natürlich mit einer kleinen Abschweifung...

Gebt mir ein A!

Bei meinem Lieblingsautor Terry Pratchett gibt es einige Geschichten mit den Nac Mac Feegle. Das sind kleine blaue Gnome („Pictsies!“), aber ihre Gemeinsamkeiten mit Schlümpfen enden hier. Sie betrinken und sie prügeln sich und sie haben zwar ihre ganz eigenen Schimpfwörter, aber bevorzugt stehlen sie alles andere; sie neigen nicht gerade zur Introspektive, ihre normale Reaktion auf ein Problem ist der Sturmangriff und sie stehen mit dem geschriebenen Wort auf Kriegsfuß. In einer Geschichte kommt es jedoch dazu, dass sie einen Plan benötigen und diesen gar schriftlich fixieren wollen. Mit unendlicher Mühe und grenzenloser Überwindung schafft es ihr Anführer schließlich in einer bewegenden Szene, die folgenden drei Buchstaben aufs Papier zu bringen:


Anschließend ist der Jubel groß, alle sind mächtig stolz auf ihn und jetzt, mit der beruhigenden Gewissheit, einen Plan zu haben...

...blasen sie selbstverständlich zum Sturmangriff.

Ein bisschen so kommt mir Magic vor. Als ich angefangen habe, mich ernsthaft mit Constructed zu beschäftigen, da war gerade die große Zeit der Magic-Strategie. Vorher war irgendwie alles wischi-waschi, nun bekamen die Decks Fokus – Wer ist in welchem Matchup der Aggressor? Wie sieht der Plan aus? Wie setzt man ihn am effizientesten um? Was bringt einen wirklich weiter? Was ist nur überflüssiger Ballast?

Damals wurde alles extrem optimiert, auf die Spitze getrieben. Beatdowndecks waren so aggressiv wie nie zuvor und niemals wieder, Kontrolldecks waren so rein (und so blau) wie die See... und Kombodecks, die waren zumindest so effektiv, dass sie die anderen beiden dazu zwangen, sich auf ihre Stärken zu konzentrieren.

Die ersten Magic-Spieler haben ihre Decks noch ohne Konzept gebaut. Entdeckt wurden Synergien nicht so sehr, weil man danach gesucht hätte, sondern per Zufall; durchgesetzt hat sich schlicht das, was funktionierte, und warum es funktionierte, blieb weitestgehend unbeachtet. Die großen Strategen Mitte/Ende der Neunzigerjahre des vorigen Jahrhunderts änderten das grundlegend. Plötzlich war da Analyse und Systematik, plötzlich hatte man... einen Plan.

Eine Zeit lang schien es, als wäre man auf dem besten Wege zu einem immer tiefergehenden Verständnis von Magic. Diese Entwicklung ebbte jedoch mehr und mehr ab und heute unterscheidet sich Deckbau wieder kaum von den absoluten Anfängen: Irgendwie ist alles ein Brei. Kombodecks gibt es nicht. Echte Kontrolle, die ihrem Namen gerecht wird, ist ausgestorben. Und aggressiver Beatdown ist, wenn er überhaupt noch auftaucht, längst nicht mehr so aggressiv, dafür umso mehr down – in den Standings.

Stattdessen reiht sich Midrange- an Midrange-Deck, Kontrollaggro an Kontrollaggro. Ein konkurrenzfähiges Standarddeck enthält im Schnitt mehr als sechs getappt ins Spiel kommende Länder (Stichprobe) – früher undenkbar! Und wer schert sich schon darum, welches Deck im Matchup BW-Tokens gegen GW-Tokens oder RW-Tokens der Aggressor ist? Wer berücksichtigt Eskalationsstufen? Inevitability? Threat-Answer-Theorie? Selbst die heiligsten aller Kühe landen mitunter auf dem Grill und gespielt wird, was sich in der Praxis bewährt. Wie der Sturmangriff.

Es stellt sich heraus: Einen Plan hat man wohl nie wirklich gehabt – vielmehr einen Pln.

Ziel des Spiels ist...

Nun, natürlich will man Spaß haben, sich mit Freunden treffen, besonders spektakuläre Spielzüge zustande bringen usw. Aber ich meine jetzt „Ziel des Spiels“ in einem abstrakteren Sinne, gleich so wie manche Spielanleitungen die jeweilige Siegbedingung überschreiben.

Ziel des Spiels Magic: The Gathering ist es, den Gegner auf null (oder weniger) Lebenspunkte zu bringen, auf eine Bibliotheksgröße von (virtuell) minus eins, auf zehn (oder mehr) Giftmarken, auf die falsche Seite eines Coalition Victory oder oder oder. Das bewerkstelligt man, so sagt die klassische Magic-Theorie, indem man möglichst vorteilhaft mit seinem Gegenspieler interagiert. Aber noch viel besser ist es – Obacht, jetzt kommt der springende Punkt! –, wenn man GAR NICHT interagiert, sondern ausschließlich agiert.

Ein Gegner, der zwischen Winter Orb und Icy Manipulator feststeckt und nur noch auf Titania's Song wartet, um endlich abzutreten. Oder einer, der im dritten Zug supreme card advantage mittels Stroke of Genius für hundert bekommt. Das ist ein guter Gegner. Dabei spricht auch nichts gegens Angreifen; lediglich das Blocken, das ist ein Ärgernis, ein notwendiges Übel, das nur existiert, um Angreifer auf die Probe zu stellen.

Jedenfalls strebt man als Spieler nicht nach Interaktion, sondern sucht sie um jeden Preis zu vermeiden! Das ist fast allen Spielen gemein. Ob man nun am Torwart vorbei-schießt, ob man danach trachtet, seinen Läufer mit dem gegnerischen König in eine gerade Linie ohne weitere Hindernisse zu bringen, oder ob man die feindlichen Monster/Aliens/Soldaten abknallt, bevor sie einen erwischen, ist letztlich alles dasselbe.
Aufgabe der Spielregeln ist es, für Interaktion zu sorgen, Augabe des Spielers, sie zu vermeiden...

Dabei will ich gar nicht in Abrede stellen, dass der ganze Reiz eines Spiels sehr wohl in der Interaktion liegt. Vielmehr geht es mir um die Aufgabenverteilung: Die Spielregeln machen Interaktion erforderlich, die Spieler hingegen versuchen, Interaktion zu vermeiden – das ist die Herausforderung, das ist das Ziel des Spiels!

In dieser Hinsicht ist Magic über die Jahre unzweifelhaft herausfordernder geworden. Wizards of the Coast sind offenbar zu der Überzeugung gelangt, das Spiel benötige mehr Interaktion, und sie haben die Spielregeln entsprechend angepasst. Nein, nicht durch tatsächliche Änderungen an den Comprehensive Rules – die Natur eines Sammelkartenspiels und insbesondere die Natur des Standardformats bedingt ohnehin, dass sich Magic jedes Jahr ändert. Zwar hätten Wizards die Anfangslebenspunkte auf 25 oder 30 erhöhen können, aber es geht eben auch wesentlich subtiler...


Kitchen Finks sind die Versinnbildlichung von Interaktion. Man kann sie nicht racen, man kann nicht an ihnen vorbei, sie umzubringen, kostet gleich zwei Karten und de facto kommt ihre Anwesenheit im Format einer Erhöhung der Lebenspunkte gleich. Die Decks, die dadurch erst lebensfähig werden, können sie haben (wenngleich heutzutage eher durch Wall of Reverence oder indirekt durch einen gewissen Kartentyp), und denjenigen, die sie nicht (ge-) brauchen, kann es nun mal egal sein, ob sie auf 20 oder auf mehr Lebenspunkten starten.


Ja, und auch die Planeswalker hauen in dieselbe Kerbe – nur noch wesentlich systematischer. Auch sie verlangen Interaktion, auch sie verlängern Spiele und auch sie verstecken in ihrer Loyalität eine De-facto-Heraufsetzung der Anfangsleben.

Übrigens halte ich Planeswalker für exzellentes Design. Sie sind stark, aber nicht zu stark; ihr korrekter Einsatz ist strategisch und taktisch durchaus fordernd; und sie sind extremely flavorful, sowohl in der Theorie als auch in der Umsetzung. In keinem Spiel wirken sie wie ein künstlicher Fremdkörper. (Jedenfalls nicht mehr als die Magic-Hintergrundgeschichte verlangt.) Nicht einmal ihr Dasein als Mythic Rare ist besonders störend, vielmehr verschafft ihre Existenz der neuesten Seltenheitsstufe noch Legitimation.

Ich würde es vermissen, wenn sie auf einmal nicht mehr da wären. Trotzdem sind Planeswalker ein wesentlicher Sargnagel zu dem Spiel, mit dem ich aufgewachsein bin. Der alte Spruch Magic ist tot bewahrheitet sich – allerdings um den Zusatz ergänzt: es lebe Magic!

Blues Brother, Where Art Thou?

Über Generationen war blaue Kontrolle Hüter des Friedens und der Gerechtigkeit in der Galaxis. Bevor es dunkel wurde in der Welt. Vor dem— ja, vor was eigentlich?

So oder so ähnlich wusste schon Obi-Wan Kenobi zu berichten. All die genannten Karten können ihren Einfluss nämlich nur geltend machen, weil echte blaue Kontrolle fehlt. Warum die fehlt, ist aber gar nicht so unumstritten.

Klar ist, dass Countermagie nicht mehr das ist, was es einmal war. Gerade die Abwesenheit von Counterspell selbst ist ein riesiger Dämpfer für derartige Strategien. Ganz schlecht ist die Lage an der Counterfront jedoch nicht. Zumindest erklärt sie den gegenwärtigen Zustand nicht allein.

Der Mangel an Instant-Carddraw dürfte noch entscheidender sein. Denn Austappen macht süchtig – fängt man einmal damit an, fällt es schwer aufzuhören. Wenn sich ein Controldeck für Mulldrifter, Tidings oder gar Sift austappt, legt der Gegner in der Zwischenzeit womöglich einen Threat und um den kümmert man sich dann vielleicht im eigenen Zug und um den nächsten schon wieder... und ehe man sich versieht, ist das ganze reaktive Prinzip zum Teufel. Die Qualität der Threats spielt sicherlich ebenfalls mit hinein und dann gibt es schließlich noch so Karten wie Demigod of Revenge und Vexing Shusher, die in unterschiedlichen Abstufungen von Subtilität Countermagie an sich bestrafen.

Der Hauptgrund, warum blaue Kontrolle auf Tauchstation ist, könnte trotzdem ein anderer sein. Nämlich dass sie in Wahrheit nie so gut gewesen ist, wie gedacht wurde. Bereits seit Psychatog hat es niemals ein echtes Controldeck mehr gegeben, und wenn es nicht Psychatog gewesen wäre, dann halt Mirari's Wake oder etwas anderes. Countermagie mit einer gewissen Portion (Late-Game-) Aggression zu verbinden, ist möglicherweise einfach das schlicht bessere Konzept.

Was auch immer die Ursache, die Abwesenheit blauer (echter) Kontrolle erlaubt es, teure Karten zu spielen. Dass man die eigenen Threats unter einer allgegenwärtigen „Counterbarriere“ hindurchschlüpfen lassen musste, war der wesentliche Faktor, warum es früher Decks mit Bedrohungen im 1- bis 2-Mana-Bereich gab. Ohne Kontrolle geraten die Manakurven – passenderweise – außer Kontrolle.

Magic Unbroken

Es klingt paradox, aber Wizards machen ihren Job zu gut. Nehmen wir einmal das folgende Extendeddeck:


4 Underground Sea
4 City of Brass
3 Underground River
3 Ancient Tomb
2 Gemstone Mine

4 Brainstorm
4 Dark Ritual
4 Defense Grid
4 Lion's Eye Diamond
4 Lotus Petal
4 Mana Vault
4 Memory Jar
4 Mox Diamond
4 Tinker
4 Vampiric Tutor
2 Yawgmoth's Will
1 Mystical Tutor
1 Megrim

Diese und weitere Karten gibt's bei:


Vor zehn Jahren und ein paar Monaten gab es einen Grand Prix in Wien, bei dem (falls mich meine Informationen nicht im Stich lassen) Erik Lauer und Randy Buehler beide mit diesem Deck in der Top 8 landeten. Und es ist wahrlich ein Monster von einem Deck. Turn-1-Kills sind damit absolut möglich und Turn 2 ist die Regel.

Nimmt man jede Karte weg, die irgendwann einmal in einem Format verboten oder restricted worden ist, dann bleibt Folgendes übrig:

Beeindruckend, nicht wahr? Ein paar Länder (nicht einmal alle), eine eher zufällige Win-Option und vier Sideboardkarten, die bereits ins Maindeck passten.

Wisst ihr, damals gab es in der Magic-Community ein lustiges Spielchen: Wizards gegen den Rest der Welt. Und das ging so: Wizards druckten Karten, von denen sie annahmen, sie wären nicht viel zu stark – und dann war es die Aufgabe von Deckdesignern, zu beweisen, dass Wizards sich irrten.

Zugegebenermaßen haben Wizards – das beweist obiges Deck – es der Welt zum Schluss echt zu leicht gemacht. Dann haben sie jedoch reagiert, indem sie der Magic-Community dieses Spiel weggenommen haben und es fortan nur noch firmenintern spielten. (Quasi Wizards gegen Wizards.) Zu diesem Zweck haben sie eine Abteilung gegründet, deren Aufgabe es sein sollte sicherzustellen, dass der Powerlevel der Karten ausgewogen ist, und die Problemkarten vorab identifizieren und ändern würde. Getreu dem Motto „If you can't beat 'em, let 'em join you“ besetzten Spieler wie Randy Buehler, Aaron Forsythe, Mike Turian, Erik Lauer oder Zvi Mowshovitz vorübergehend oder fortdauernd Stellen bei Wizards.

Nicht ohne Erfolg! Mit Ausnahme des Skullclamp/Affinity-Debakels und der minderschweren Psychatog- und Tarmogoyf-Ausrutscher hat es seit dem Urza-Block keine wirklich überstarken Karten mehr gegeben. Ja, im Masken-Block war da noch einmal etwas mit Lin-Sivvi und Rishadan Port und die Neuauflage von Urza's Tower & Co. in der Neunten Edition hätte es echt nicht gebraucht. Auch Dragonstorm war von ihnen ein wenig unterschätzt. Aber zuletzt bedauerte jene Abteilung bereits ihre Fehleinschätzung der Vivid-Länder und deren Synergie mit Reflecting Pool – im Vergleich zu früher ein absolutes Luxusproblem!

Nettle Sentinel, Summoner's Pact, Goblin Piledriver, Goblin Warchief sowie die gesamte Dredge-Mechanik plus Bridge from Below/Narcomoeba/Dread Return beweisen andererseits, dass ihre Kontrollinstanz nicht in der Lage ist, einen Kartenpool von der Größe des Extendedformats zu überblicken – oder nicht willens. (Schließlich brächte das einige Einschränkungen mit sich.) Allerdings ist genau das einer der Gründe, warum Extended mein absolutes Lieblingsformat ist.

Denn das Spiel Wizards gegen den Rest der Welt fand ich für meinen Teil immer ungemein spaßig! Ich habe nie wirklich zu den Entdeckern gehört, aber mit brokenen Karten zu spielen (und ja, auch dagegen), war interessant. Mitzuerleben, wie ein Metagame auf die Anwesenheit eines brokenen Decks reagiert, ist spannend.

Bleibt mir weg mit einem ausbalancierten Metagame! Jahrelang ist darüber gejammert worden, wenn ein Metagame von bestimmten Strategien oder Karten dominiert wurde. „Broken“ war ewig ein fester Begriff, der gleichzeitig Wertschätzung und eine Form von angewidertem Abscheu zum Ausdruck brachte. Ist euch aufgefallen, dass dieses Wort in letzter Zeit immer mehr aus der Mode gerät? Ich oute mich einfach mal und sage: Gebt uns mehr Brokenness!

Ich will wahrlich nicht zurück in die Steinzeit des Urza-Blocks. Aber genauso wie jede Geschichte einen Bösewicht braucht, um in Gang zu kommen, oder irgendeinen Konflikt, um nicht sterbenslangweilig zu sein, benötigt Magic etwas, worauf man mit dem Finger zeigen kann. Etwas, das man verteufeln kann. Etwas Brokenes.

Erst unter Extrembedingungen zeigt sich, aus welcher Pappe die Karten geschnitzt sind. Nahezu alle Errungenschaften der Magic-Theorie stammen aus einer Zeit, in der Errungenschaften schlicht nötig waren. Erst unter Druck entsteht Fortschritt. Heutzutage gibt es verdammt viele Decks und Varianten, die viable sind, und was nun genau das Optimum ist, ist nahezu unmöglich festzustellen. Schon jetzt liest man in völliger Abkehr vom Optimierungs-Imperativ immer öfter, diese oder jene Deckbauentscheidung sei Geschmackssache. Früher war das ein sicheres Indiz dafür, dass jemand einfach keine Ahnung von der Materie hat. Im Grunde ist es das immer noch. Nur heute stellt das eben kein Hindernis mehr dar.

Matchup-Prozente sind gleichermaßen so eine Sache: Sie lungern zum absoluten Großteil faul im 45-55-Prozent-Bereich herum. Nehmen wir als Beispiel: GW-Tokens, BW-Tokens und RW-Reveillark alias Boat Brew – wer besiegt hier wen? Bekomme ich darauf eine eindeutige Antwort? Ich denke nicht.

In gewisser Weise ist das natürlich eine feine Sache, dass man in jedem Matchup eine realistische Chance hat. Früher einmal war es gang und gäbe, Bescheid zu wissen, wie das Metagame aussieht: X besiegt Y besiegt Z besiegt X. Zuletzt ist es selten so eindeutig und es gibt keinen Matchup-Vorteil, den ein paar Sideboardkarten nicht ausbügeln könnten. Vielleicht wird neben der Deckoptimierung über kurz oder lang eine Metagame-Einschätzung ja ebenfalls optional.

Müllvermeidung & Goldfinger

Es gibt mehr Karten.

Nun, es gibt nicht wirklich mehr Karten, aber Wizards' Bestreben, einen ausgewogenen Powerlevel sicherzustellen, hat zwei Seiten. Nicht nur werden die Überkarten herausgenommen, auch der Müll wird minimiert. Wer heutzutage noch darüber meckert, dass so viele Karten für Constructed-Belange ohne... nun ja, ohne Belang sind, der hat die gute alte Zeit nicht miterlebt. Früher gab es auf der einen Seite Karten, die durften mitspielen – und dann gab es auf der anderen Seite die überwiegende Mehrheit.

Ja, weniger Müll ist zunächst einmal positiv. Eine Schrottkarte (z.B. in einem Booster zu öffnen) ist für jeden von uns frustrierend. Aber Brokenness hat durchaus seine Vorteile, eindeutige Matchups ebenso und – vielleicht erkennt ihr das Muster – Schrottkarten genauso. Der effektive Kartenpool, also die Zahl der tatsächlich spielbaren, der relevanten Karten, war damals wesentlich kleiner. Die Folge war Überschaubarkeit.

Das vermisse ich. In der Vergangenheit konnte man am Ende einer Saison ziemlich sicher sein, dass alle Möglichkeiten des Formats ausgeschöpft worden sind, dass das Format verstanden, durchgespielt und gelöst wurde. In der Gegenwart gibt es einfach immer so viele Optionen, so viele Alternativen, alles wirkt so beliebig. Wer kann schon wissen, ob dieses oder jenes nicht vielleicht doch unter diesen oder jenen Umständen gut gewesen wäre? Und ob von einem Deck wie Quick 'n Toast überhaupt jemals ein stabiles (oder relatives) Optimum gespielt worden ist, bleibt eher zweifelhaft. Die Möglichkeiten sind einfach zu unüberschaubar, die Variablen zu zahlreich.

Dabei müssen es nicht unbedingt Schrottkarten sein, die man außerhalb von Limited nicht einmal mit der Kneifzange anfassen würde – kleinere Sets können ebenfalls für Überschaubarkeit sorgen. Noch zeigen sich die Auswirkungen aufs Standardformat nicht (die Lorwyn/Shadowmoor-Blöcke waren schließlich groß), aber ich bin extrem gespannt (sowie vorsichtig optimistisch), was Standard angeht, sobald dort nur noch Sets vom Umfang des Alara-Blocks legal sind.

Wisst ihr, was außerdem dafür sorgt, dass es effektiv mehr Karten gibt? Mehrfarbigkeit.

Einem einfarbigen Deck steht grob ein Fünftel des Gesamtkartenpools zur Verfügung, einem zweifarbigen Deck zwei Fünftel und einem fünffarbigen Deck steht eben der gesamte Kartenpool zur Verfügung.

Nun ist Mehrfarbigkeit zuletzt immer einfacher zu bewerkstelligen geworden, während die Anreize für Einfarbigkeit zusehends schrumpften. Mono-Rot hat keinen Grund, auf Schwarz als Nebenfarbe zu verzichten, und Grün ist dann nicht mehr weit, weiße Kithkin könnten problemlos splashen (es fragt sich nur, ob sie wollen), Sanity Grinding ist mehr lustig als gut und so bleibt Grün als einzig legitimes Mono-Deck, wobei dessen Legitimation selbst als Randerscheinung in Zweifel gezogen werden darf. Ach ja, und zu allem Überfluss erlaubt Shadowmoors Hybridtechnologie es sogar einfarbigen Decks, mehrfarbige Sprüche auszuspielen.

Post Scriptum

Falls ihr es nicht gemerkt habt: Die meisten Aussagen in diesem Artikel betreffen Standard, wie es vor Grand Prix Barcelona ausgesehen hat. (Einen Großteil hatte ich sogar schon vor über einem Monat geschrieben.)

Das Cascade-Swans-Deck jedenfalls ist gerade einmal ein Wochenende alt und schon jetzt wird darüber gejammert.

Ich find's toll! Ein Deck mit 40 Ländern ist sowieso cool, und auch wenn Spiele damit/dagegen nicht sonderlich interaktiv sind, so wird Deckbau/Metagaming dafür jetzt umso interessanter. Das alte Spiel von Hate und Gegenhate, von gut ausgetüftelten Sideboards, eindeutigen Matchups und klarer Rollenverteilung beginnt von Neuem.

Und um das „alte Spiel“ – genau darum ging es ja heute.

Bis zum nächsten Mal tappt für euch weiter im Dunkeln...

TobiH
#478




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