Heute nehmen wir einmal Abstand von der hin und wieder etwas seichten oder gar esoterischen Magie und verwenden knallharte Mathematik, um eine uralte Menschheitsfrage zu beantworten. Top oder
Bottom Flop? Darauf gibt es nämlich eine eindeutige Antwort. Sie lautet: Ja gerne!
Zumindest in Bezug auf
Magic. Hintergrund hier ist natürlich, dass extremere Platzierungen deutlich besser entlohnt werden als konstante. Ein PT-Sieg ist beispielsweise so viel wert wie vier fünfte Plätze. Ein Spieler, der bei zwei Grand Prix insgesamt 18 Matches gewinnt, erhält, wenn sich seine Siege gleichmäßig auf beide Turniere verteilen, gar nichts – oder 4000 Dollar, wenn alle Siege auf eins der beiden Turniere entfallen. Bei einem GPT oder PTQ zählen überhaupt nur erste Plätze. Und so weiter und so fort, die Liste lässt sich beliebig fortsetzen. Wir wollen lieber, dass sich unsere Turnierergebnisse ausnahmslos aus ersten und letzten Plätzen zusammensetzen, als ständig im Mittelfeld oder selbst im oberen Drittel zu landen. Eine Frage schließt sich an: Können wir das beeinflussen?
Nun wurde bereits vor Urzeiten die These in den Raum gestellt, dass ein Deck, welches besonders gute und besonders schlechte Matchups hat, besser dafür geeignet sei, Spitzenergebnisse zu erzielen, als eines, das jedes beliebige Matchup zu ungefähr 50 % gewinnt.
Keeping It Simple, Not Stupid
Um das untersuchen zu können, sind ein paar Vereinfachungen nötig, und damit es einigermaßen übersichtlich bleibt, noch ein paar mehr. Die Realität ist kompliziert, doch zumindest im Prinzip lässt sich das Problem lösen. Dies sind die Annahmen, mit denen ich im Folgenden arbeiten werde:
1) |
Wir interessieren uns der Einfachheit halber ausschließlich für die Wahrscheinlichkeit, über mehrere Runden hinweg ungeschlagen zu bleiben.
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2) |
Wir haben die Wahl zwischen zwei Decks: Eines hat unabhängig vom gegnerischen Deck in jedem Match eine Siegchance von 50 %. Das ist unser Vergleichswert.
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3) |
Unsere Alternative ist ein Deck, welches gegen einen Teil des Felds (A) zu 70 % und gegen einen anderen Teil des Felds (B) zu 30 % gewinnt. Uns interessiert, ob dieses Deck eine bessere oder eine schlechtere Chance hat, ungeschlagen zu bleiben.
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4) |
Es gibt ausschließlich A und B. Das ist insofern eine legitime Vereinfachung, weil zusätzliche Matchups, solange sie in der Summe neutral sind, keinen Einfluss darauf nehmen, ob unser Alternativdeck den Vergleichswert schlägt. Beispielsweise könnte man auch mit je einem 70- und einem 30-, einem 60- und einem 40- sowie einem 50-prozentigen Matchup arbeiten.
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5) |
Wir gehen davon aus, dass A und B untereinander ein ausgeglichenes Matchup haben. In der Realität würde unsere Deckwahl natürlich massiv davon beeinflusst, wenn es einen Gegner gäbe, auf den wir in den späteren Runden vermehrt treffen. Wir müssten besonderes Augenmerk darauf legen, speziell diesen zu besiegen. Heute geht es allerdings nur darum, ob ein Deck mit extremeren Matchups eher Spitzenergebnisse liefert als eines mit ausgeglichenen Matchups – losgelöst von anderen Faktoren.
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6) |
Ebenso spielt bei unseren Überlegungen keine Rolle, wie gut man spielt. Viele Leute glauben, dass sie mit einem 50/50-Deck durch überlegenes Spiel einfach jede Runde gewinnen können, während sie mit einem 70/30-Deck schlicht den Matchups ausgeliefert sind. Das mag im Einzelfall so sein, aber wer hier ein 50-prozentiges Matchup zu einem 55-prozentigen schönrechnet, soll bitte auch ein 70-prozentiges zu einem 75-prozentigen und ein 30-prozentiges zu einem 35-prozentigen umdeuten. Die Zahlen funktionieren zur Not genauso.
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Wovon hängt es nun ab, ob das Deck mit den 70/30-Matchups besser abschneidet als das 50/50-Deck? Offensichtlich davon, auf welche Decks wir treffen. Man sieht auf Anhieb, dass unser Deck von einem Übergewicht von A profitiert, während es unter einem Übergewicht von B leidet. Tatsächlich ist die gesamte Debatte müßig, wenn wir wissen, in welchem Verhältnis A und B gespielt werden.
Deshalb müssen wir zwangsläufig noch einen weiteren Punkt klarstellen. Zum Glück ist der ausgesprochen realitätsnah:
7) |
Wir wissen nicht, in welchem Verhältnis A und B gespielt werden.
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Was das jedoch genau bedeutet, ist gar nicht so einfach. Zumindest gibt es darüber verschiedene Theorien. Zum Beispiel wurde die Behauptung aufgestellt, man müsse davon ausgehen, dass wir mit derselben Wahrscheinlichkeit auf A treffen wie auf B. Schließlich wissen wir ja nicht, in welchem Verhältnis A und B gespielt werden, und haben keinen Grund, ein Übergewicht des einen oder des anderen anzunehmen.
Nun … entdeckt ihr den Denkfehler? Wenn wir davon ausgehen, dass wir mit derselben Wahrscheinlichkeit auf A treffen wie auf B, dann haben wir effektiv nichts anderes getan, als festzulegen, in welchem Verhältnis A und B gespielt werden. Wir treffen nämlich nur dann mit derselben Wahrscheinlichkeit auf A wie auf B, wenn beides exakt gleich viel gespielt wird. Wenn allerdings beides exakt gleich viel gespielt wird, sind alle weiteren Überlegungen schlicht überflüssig. Bei dieser Festlegung ergibt sich, dass das 50/50-Deck und das 70/30-Deck dieselbe Chance haben, ungeschlagen zu bleiben. Und das ist nicht weiter verwunderlich, immerhin wurden die zwei Zahlenpaare 50/50 und 70/30 ja auch extra so gewählt, dass dieses Ergebnis herauskommen muss, wenn gleich viel A wie B gespielt wird.
Nein, wir haben zwar keinen Grund, ein Übergewicht von A oder B anzunehmen, wir sollten diese Möglichkeit aber keineswegs von vornherein ausschließen!
Unwissenheit schützt vor Rechnung nicht
Und tatsächlich müssen wir diese Möglichkeit auch nicht ausschließen. Man kann nicht nur mit den Daten rechnen, die einem vorliegen, sondern ebenso mit Unbekannten. Wie viel A in einem Turnier gespielt wird, können wir im Vorhinein nicht sagen, wir können aber einfach mal verschiedene Werte für A einsetzen und schauen, wie hoch die Gewinnwahrscheinlichkeit unseres 70/30-Decks ausfällt. Hier zunächst ein paar Zahlen dafür, eine einzelne Runde zu gewinnen:
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Anteil A am Feld
100 %
90 %
80 %
70 %
60 %
50 %
40 %
30 %
20 %
10 %
0 %
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Wahrscheinlichkeit (1 : 0)
70 %
66 %
62 %
58 %
54 %
50 %
46 %
42 %
38 %
34 %
30 %
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Das ist nicht weiter spannend. Die Chance auf den Rundensieg steht in direkt proportionalem Verhältnis zum Anteil von A. Mehr A macht den Sieg wahrscheinlicher, weniger A macht ihn weniger wahrscheinlich. Die Balken werden von oben nach unten gleichmäßig immer kürzer. Zöge man eine Linie durch ihre Endpunkte, erhielte man eine hübsche Gerade.
Und noch etwas: Der lila Balken entspricht zufälligerweise auch der Gewinnwahrscheinlichkeit unseres Vergleichsobjekts, des 50/50-Decks. Die anderen Farben tauchen je zweimal auf, weil die Balken und ihre Werte gewissermaßen Paare ergeben. Der obere Balken einer Farbe ist hier jeweils genau um so viel länger als der lila Balken, wie der untere Balken kürzer ist.
Interessant wird es jetzt, wenn man zwei Runden in Folge gewinnen will:
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Anteil A am Feld
100 %
90 %
80 %
70 %
60 %
50 %
40 %
30 %
20 %
10 %
0 %
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Wahrscheinlichkeit (2 : 0)
49,00 %
43,56 %
38,44 %
33,64 %
29,16 %
25,00 %
21,16 %
17,64 %
14,44 %
11,56 %
09,00 %
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Lila entspricht hier und im Folgenden auch weiterhin der Gewinnwahrscheinlichkeit des 50/50-Decks, aber die Länge der anderen Balken nimmt jetzt nicht mehr gleichmäßig ab, sondern von oben nach unten immer etwas weniger. Egal welches Paar man betrachtet, der höhere Wert ist weiter von 25 % entfernt als der dazugehörige tiefe. Und es geht weiter …
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Anteil A am Feld
100 %
90 %
80 %
70 %
60 %
50 %
40 %
30 %
20 %
10 %
0 %
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Wahrscheinlichkeit (3 : 0)
34,3000 %
28,7496 %
23,8328 %
19,5112 %
15,7464 %
12,5000 %
09,7336 %
07,4088 %
05,4872 %
03,9304 %
02,7000 %
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Wenn man drei Runden in Folge gewinnen will, zeigt sich derselbe Effekt, bloß noch stärker. Die Kurvenform ist wirklich nicht mehr zu übersehen; der untere Wert eines jeden Paars rückt näher an die Mitte heran, der obere entfernt sich weiter.
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Anteil A am Feld
100 %
90 %
80 %
70 %
60 %
50 %
40 %
30 %
20 %
10 %
0 %
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Wahrscheinlichkeit (4 : 0)
24,010000 %
18,974736 %
14,776336 %
11,316496 %
08,503056 %
06,250000 %
04,477456 %
03,111696 %
02,085136 %
01,336336 %
00,810000 %
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Für eine Siegesserie von vier Runden werden die Werte noch krasser. Vermutlich kann man sogar beweisen, dass sich dieser Trend grundsätzlich fortsetzt, je mehr Runden man betrachtet. Deshalb ist mit den Zahlenspielen an dieser Stelle erst einmal Schluss.
Mehrwert
Beschäftigen wir uns stattdessen damit, was uns diese Zahlen bringen, und vor allem damit, was sie nicht leisten können. Denn Folgendes geht nicht: Man kann selbstverständlich nicht einfach so tun, als ob alle diese Feldanteile gleich wahrscheinlich wären. Dass wir auf ein Feld aus lauter A treffen, ist ziemlich unrealistisch, ebenso unwahrscheinlich, wie auf ein Feld komplett ohne A zu stoßen. Feldanteile im mittleren Bereich sind weitaus realistischer. Aus diesem Grund ist es unmöglich zu bestimmen, wie sehr sich die Erfolgsaussichten des 70/30-Decks von denen des 50/50-Decks unterscheiden. Dass überhaupt ein Unterschied besteht, ist das Einzige, was sich feststellen lässt. Glücklicherweise beantwortet das bereits unsere Fragestellung.
Ich zitiere einmal von weiter oben: „Wir [wissen] nicht, in welchem Verhältnis A und B gespielt werden, und haben keinen Grund, ein Übergewicht des einen oder des anderen anzunehmen.“
Und noch ein Zitat: „Dass wir auf ein Feld aus lauter A treffen, ist […] ebenso unwahrscheinlich, wie auf ein Feld komplett ohne A zu stoßen.“
Beides bedeutet im Kern nichts anderes, als dass es legitim ist, die potenziellen Feldanteile paarweise zusammenzufassen. Bei einem völlig unbekannten Feld ohne Tendenz zu A oder B sind Feldanteile von 0 % A und von 100 % A jeweils gleich wahrscheinlich; 10 % und 90 % sind jeweils gleich wahrscheinlich; 20 % und 80
% sind jeweils gleich wahrscheinlich; 30 % und 70 % sind jeweils gleich wahrscheinlich; 40 % und 60 % sind jeweils gleich wahrscheinlich. Zur Erinnerung: Wüssten wir von einer Tendenz zu A oder B, würden wir unsere Deckwahl ja stattdessen schlicht davon abhängig machen! Deshalb muss der Ausschluss einer solchen Tendenz notwendigerweise Teil dessen sein, was wir in
Magic unter einem unbekannten Feld verstehen.
Paarweise zusammengefasst sieht das dann beispielsweise so aus:
| Anteil A am Feld
100 % oder 0 %
90 % oder 10 %
80 % oder 20 %
70 % oder 30 %
60 % oder 40 %
50 % oder 50 %
| | Wahrscheinlichkeit (3 : 0)
p
p
p
p
p
p
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Die Gesamtlänge der beiden roten Balken hier repräsentiert zusammen die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit für drei Siege in Folge in einem Feld mit entweder 100 % oder 0 % A. Die Gesamtlänge der beiden orangenen Balken repräsentiert die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit bei 90 % oder 10 %. Und so weiter. Interessant ist, dass jedes Balkenpaar zusammen länger ist als das unterste. Was bedeutet:
Wenn nicht genau 50 % A gespielt wird, sondern entweder mehr oder weniger, haben wir mit dem 70/30-Deck im Schnitt bessere Chancen, mehrere Runden lang ungeschlagen zu bleiben. |
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Auf ein Feld mit 60 % A zu treffen, ist offensichtlich gut für uns, und auf ein Feld mit 40 % A zu treffen, offensichtlich schlecht für uns. Doch da hört es eben nicht auf: Ein Feld mit 60 % A ist im Vergleich zum gleichverteilten Feld tatsächlich mehr besser (besserer!), als ein Feld mit 40 % A schlechter ist. Der Zugewinn ist im Glücksfall größer als der Verlust, wenn wir im selben Maße Pech haben. Glück und Pech hingegen treten mit gleicher Wahrscheinlichkeit auf.
Man kann das sogar beliebig auf die Spitze treiben: Nehmen wir einmal ein Turnier, bei dem neben uns 200 andere Spieler antreten. Zufälligerweise wissen wir von 99, dass sie auf jeden Fall A spielen werden, und von 99, dass sie B spielen werden. Lediglich zwei sind noch unentschlossen und werden zufällig entweder zu A oder zu B greifen. Selbstverständlich ist der Unterschied zwischen unserem 70/30-Deck und unserem 50/50-Deck in diesem Fall so aberwitzig gering, dass er in der Praxis kaum ins Gewicht fällt und von so ziemlich jedem anderen Faktor überschattet wird. Aber er ist da. Bezifferbar. Das 70/30-Deck hat eine höhere Chance, die Siegesserien zu produzieren, die wir benötigen, um das Turnier zu gewinnen.
Relevanz?
Was
Magic für mathematisch interessierte Menschen gleichermaßen so interessant, aber auch so frustrierend macht, ist der Umstand, dass man die schwierigen Antworten einerseits fast nie errechnen kann, weil es zu viele Faktoren gibt, und dass andererseits das, was man berechnen kann, fast nie relevant ist. So ähnlich auch hier.
Das fängt schon damit an, dass es heutzutage fast nirgendwo überhaupt noch Matchups im 70/30-Bereich gibt. Zwar steht das 51/49-Deck gegenüber dem 50/50-Deck nach demselben Prinzip besser da, aber dieser Unterschied ließe sich zum Beispiel in Pixeln gar nicht mehr zeigen. Nicht umsonst ging es damals, als die Frage erstmals aufgeworfen wurde, konkret um
Howling Owl, ein Deck, dessen zwei namensgebende Karten bereits erahnen lassen, dass es gegen sämtliche Aggrodecks tatsächlich nur 30 %, dafür gegen alle Kontrolldecks 70 % holte – eine ziemliche Rarität.
Und manchmal trifft man die korrekte Entscheidung
und verliert genau deswegen. Die Realität ist eben die unperfekte Wiedergabe mathematischer Zusammenhänge. Im Zweifel würde ich jedem empfehlen, sich bei der Deckwahl lieber nach anderen Faktoren zu richten: selbst nach einer unsicheren Einschätzung des Metagames etwa oder danach, wie gut man sich mit den zur Auswahl stehenden Decks auskennt. Aber wenn alles andere, was die Entscheidung beeinflusst, gleich ist, ist das Varianzdeck grundsätzlich zu bevorzugen.
Und Schluss
In diesem Sinne wünsche ich euch aufgrund eurer Deckwahl ganz viele letzte Plätze und Niederlagenserien, von ebender Art, die dann mit Siegesserien und ersten Plätzen einhergehen!
Zum Abschluss bedanke ich mich bei Frank Karsten für einen Artikel vor vielen Jahren und ein Gespräch letzte Woche, bei Andreas Pischner fürs Ausloten von Denkfehlern und besonders bei Michael Müller für seine Fachkompetenz und Geduld!
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