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Was ist "schwul"? Eine sexuelle Orientierung, natürlich, die bedeutet, das sich ein Männlein für andere Männlein anstatt für Weiblein interessiert - soweit ist es klar. Aber es muss wohl noch etwas anderes heißen, etwas, das auch in irgendeiner Form mit Magic zu tun hat - denn dieser Begriff begegnet mir immer und immer wieder im Zusammenhang mit meinem Hobby!
Dabei geht es nicht darum, dass einige Magic-Spieler, selbstverständlich, tatsächlich schwul sind. Einige stehen offen dazu, andere behalten es für sich, ein paar gefallen sich in Andeutungen, und wiederum andere wissen es vielleicht selbst noch nicht - wie bei jeder anderen Bevölkerungsgruppe auch. (Über dieses Thema kann man sicherlich reichlich mehr oder weniger witzige Kommentare in Bezugnahme auf demographische Eigenheiten der Magic-Subkultur machen, aber die will ich mir, zumindest in diesem Artikel hier, verkneifen.)
"Schwul" tritt jedoch in der Magic-Szene immer wieder in Zusammenhängen auf, die mit seiner sexuellen Bedeutung nichts zu tun haben.
Zum ersten Mal begegnete ich diesem Phänomen während meiner Zivildienstzeit, die ich in einem baden-württembergischen Kaff namens Mössingen verbrachte. Mössingen besteht im Wesentlichen aus den Einrichtungen der KBF (Körperbehindertenförderung), dem größten Bereitsteller von Zivildienstplätzen in Deutschland: Schulen, Wohnheime etc... Und damit sind seine Attraktionen wohl auch bereits vollständig beschrieben. Glücklicherweise war zumindest Tübingen nur einige Bahnminuten entfernt: Eine sehr nette, kleine Universitätsstadt mit Tradition und vielen Kneipen - und dank der vielen Studenten sogar mit einer recht ansehnlichen Rollenspieler- und Magic-Szene. Natürlich verbrachte ich jeden freien Abend dort!
Es gab dort eine Pizzeria, in der einmal in der Woche ein Magic-Treff stattfand. Dort lernte ich einige Spieler aus BW kennen, darunter den berüchtigten Marc Nübling, und dort hörte ich auch zum ersten Mal Folgendes:
"Sneak Attack gegen zwei Argothian Enchantress? Was für ein schwuler Tausch!"
Und ich muss zugeben, ich wusste nicht, was das bedeuten sollte! Zuerst dachte ich, es handele sich um einen Insider, den ich nur als Außenstehender aus Berlin nicht verstand, aber dann hörte ich es immer häufiger, und in verschiedenen Variationen:
"Was für ein schwules Deck!" (Auf das Academy-Deck bezogen.)
"Die schwule Karte kannst Du gerne haben!"( Beim Antauschen eines Thran Quarry).
"Kann nicht jemand diese schwule Kombo da wegmachen?" (In einem Multiplayer, angesichts eines Endless Wurm mit Launch)
So nach und nach begann ich zu erraten, was "schwul" in diesen Zusammenhängen zu bedeuten hatte: Etwas Ungewohntes, was irgendwie nicht ganz in Ordnung war, und das daher abgelehnt und in einigen Fällen sogar als gefährlich angesehen wurde.
...
(Denkpause)
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Noch bevor ich meinen Zivildienst beendet hatte und endgültig nach Berlin zurückkehren durfte, stellte ich fest, dass dieser Ausdruck keineswegs eine Tübinger Eigenheit war (oder wenn doch, dann eine, die sich in Windeseile ausbreitete): In Berlin begegnete ich Magic-Spielern, die von "schwulen plays" sprachen, wenn jemand den frisch eingeführten Stack benutzte, oder von "schwulen Preisen", wenn ihnen ein Morphling für 20-25 DM zu teuer erschien. Im Netz stieß ich auf Artikel (besonders aus der Kölner Ecke), in denen alles mögliche "schwul" sein konnte: Uhrzeiten, Wegbeschreibungen, Fast Food... Plötzlich war die Welt voller Schwulitäten. Willkommen in der Umgangssprache, "schwul"!
Die Benutzung dieses Ausdrucks scheint Trends unterworfen zu sein; sein Gebrauch ebbt an und ab. Das kenne ich von anderen Ausdrücken, die einmal "in" waren: Zu meiner Abi-Zeit (lang, lang ist's her!) konnten Dinge "finster" sein, wenn sie unangenehm waren, oder "vom Feinsten", wenn sie positiv gewertet wurden. Was hatten wir doch damals noch gleich anstelle von "schwul" gesagt, um zu beschreiben, dass etwas irgendwie mekrwürdig, nicht in Ordnung und potenziell bedrohlich war (wie zum Beispiel die komplexen Zahlen im Mathematik-Unterricht, mit denen viele überhaupt nicht zurecht kamen)? Ach ja, richtig, "krank"!
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(Denkpause)
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Modewörter kommen und gehen - ich habe schon lange niemanden mehr von einer "voll finsteren Prüfung" oder einer "total kranken Hausaufgabe" reden hören, obwohl diese Ausdrücke bestimmt noch hier oder da von Einigen benutzt werden. "Schwul" scheint im Moment noch in zu sein, auch wenn es wohl nicht mehr so weit verbreitet ist, wie vor zwei, drei Jahren, und die meisten, die es benutzen (jedenfalls hier in Berlin), mir als eine homogene Gruppe erscheinen- vielleicht eine Clique, in der der Gebrauch dieses Wortes am Leben erhalten wird. Sie sind aber nicht die Einzigen - ich begegne immer mal wieder Leuten, die diesen Begriff verwenden.
Wie aber kommt man nun darauf, Dinge und Abstrakta, die mit Sicherheit keinerlei sexuellen Bevorzugungen aufweisen, als "schwul" zu benennen?
Wer die beiden Denkpausen genutzt hat, sollte es verstehen: Der gemeinsame Nenner liegt in der Einstellung, die man(n) schwulen Menschen und schwulen Dingen gegenüber hat: Sie sind anders, auf eine Art die man nicht nachvollziehen kann - oder sich nicht traut, nachvollziehen zu wollen -, und sie passen nicht in das geordnete, übersichtliche Weltbild, das man gerne hätte. Außerdem weiß man nie so recht, ob sie nicht doch irgendwie gefährlich werden (so wie das Academy-Deck...)
Aber halt, nein, das kann ja eigentlich gar nicht sein! Wir sind doch als Magic-Spieler alle aufgeklärte, tolerante, moderne Menschen und frei von solchen Gefühlen! "Schwul" ist nur ein Wort, weiter nichts!
...aber wo kommt es her? Wieso benutzen wir es, und wieso scheint es zur Beschreibung mancher Dinge so geeignet zu sein?
"Kindermund tut Wahrheit kund", heißt es, und dieser Spruch besitzt auch Abwandlungen für Betrunkene, alte Menschen und geistig Benachteiligte. Ich möchte ihn mal auf Magic-Spieler, während sie ihrem Hobby frönen und unter sich sind, ausdehnen - die Wahrheit kommt aus dem Unterbewusstsein!
Und ich denke, ich kann sie auch nachvollziehen! Ich selbst bin heterosexuell, ohne irgendwelche Anflüge von Bisexualität, die mir bewusst wären. Oder anders ausgedrückt, ich fahre voll auf Frauen ab, und überhaupt nicht auf Männer. Das heißt, ich wünsche mir engsten körperlichen Kontakt zu Frauen - Kontakt, der sogar noch über Berührung und Eindringen hinausgeht (ein erfolgreicher Popsong sprach genau von diesem Phänomen, dem "Austausch von Körperflüssigkeiten"). Solche Wünsche sind, auch in den Augen unserer Gesellschaft, absolut normal - ungewöhnlich ist höchstens, dass man darüber spricht! Das hat zumindest teilweise den Grund, dass Sex, wenn man ihn nüchtern beschreibt, eine ziemlich unappetitliche Sache zu sein scheint. Logisch, dass Kinder die Vorstellung eines Zungenkusses oft eklig finden, und dass die erste Erklärung, wie Babies gemacht werden, häufig auf Unglauben und Heiterkeit stößt!
Aber irgendwann in der Pubertät passiert dann etwas Merkwürdiges: Das, was man vorher als eklig oder zumindest uninteressant ansah, wird plötzlich als besonders aufregend und wünschenswert empfunden - zumindest mit attraktiven Vertretern des anderen Geschlechts! Wenn man hetero ist, heißt das.
Wenn man nun aber schwul ist - nun, Schwule wünschen sich offenbar ähnliche Kontaktformen mit anderen Männern. Pfui! Bäh! Die neue Einstellung gegenüber sexuellen Kontakten bezieht sich eben nur auf Frauen, und die Vorstellung, sie mit einem Mann zu haben... gefällt einem überhaupt nicht. Vorsichtig ausgedrückt.
Vom rationalen Standpunkt aus betrachtet gibt es da natürlich gar keine Probleme! Klar, Schwule machen eben miteinander das gleiche (oder zumindest ähnliche Dinge) wie Heteros, kein Problem. Und die Chance, dass ein Schwuler gegen meinen Willen zudringlich wird, ist ja auch nicht allzu groß (mit Sicherheit geringer als die Chance, dass ein Hetero-Mann einer Frau gegenüber zudringlich wird)! Also habe ich keinerlei Probleme mit Schwulen, warum auch?
Das war der rationale Standpunkt. Aber da gibt es, irgendwo im Unterbewußtsein, noch den irrationalen... Den, der jedesmal, wenn ich jemanden als schwul einstufe, versucht, mir für einen kurzen Moment Bilder ins Gedächtnis zu rufen, die "Schwul-Sein" illustrieren, und mich dadurch an Dinge denken lässt, die ich nicht mag. Es ist eine sehr schwache Stimme - ich bin ein weitgehend rationaler Mensch - und es bereitet mir keinerlei Mühe, sie sofort wieder zu vergessen. Aber es gibt sie, und ich bin ehrlich genug mir selbst gegenüber, mir das einzugestehen.
Ich glaube - nein, ich bin mir sogar sicher! - dass die meisten Magic-Spieler, die von "schwulen" Karten oder Spielzügen reden, keine bewussten Vorurteile gegenüber Schwulen haben. Aber ebenso bin ich mir auch sicher, dass diejenigen, die dieses Wort verwenden, weil sie es intuitiv als passend empfinden, unbewusste Ressentiments verspüren, die in ihrer Wortwahl durchschimmern. Die Sprache bringt es an den Tag.
Dieser Artikel hier soll keine Anklage darstellen. Er soll nicht einmal ein Aufruf werden, den Begriff "schwul" nicht mehr zu verwenden. Ich bin überhaupt kein Freund der vielbeschworenen "political correctness", deren Auswüchse, wie z.B. das große I ("Liebe Gäste und GästInnen...") meiner Ansicht nach genau das Gegenteil des mit ihnen angestrebten Zwecks erreichen: Nämlich die Bemühungen um Gleichberechtigung und Toleranz ins Lächerliche zu ziehen. Und ganz besonders verabscheue ich unnötige Zensur - selbst, wenn es nur eine halb freiwillige, auf moralischen Druck zustande gekommene Zensur ist. (Wieviele von Euch wissen noch, warum ein Slogan zur Erhaltung der Umwelt von "Sondermüll bedarf Sonderbehandlung" zu "Sondermüll bedarf Sonderentsorgung" geändert wurde?) Ich finde es auch überhaupt nicht schlimm, wenn Witze über Randgruppen gemacht werden! Viel schlimmer wäre es, wenn man aus lauter Betroffenheit KEINE Witze über Schwule, Türken und Behinderte machen würde, während gleichzeitig Witze über Schwiegermütter, Ostfriesen und Blonde eine Selbstverständlichkeit sind. Natürlich gibt es da irgendwo eine Grenze zwischen derbem Humor und reiner, boshafter Geschmacklosigkeit - aber ein "Witz" über vergaste Juden wird auch nicht besser oder geschmackvoller, wenn man ihn stattdessen mit Ostfriesen erzählt!
Ich bin also nicht der Meinung, dass Schwule besonderer Schonung bedürfen. Wenn ich der Auffassung bin, dass Thomas Hermanz (Schreibt man den so?) ein arroganter, schwuler Widerling ist, dann sage ich das auch - obwohl die Tatsache, dass er schwul ist, mich für sich genommen natürlich nicht stört. Aber er ist auch unerträglich arrogant, und das eben auf eine schwule Art - genauso, wie die beiden Maggi-Schwulen aus der Fernsehwerbung (es war doch Maggi?) auf schwule Art niedlich wirken sollen, oder Ralf König Kerle zeichnet, die auf schwule Art mackerhaft wirken. Und wenn eine Verwandte von mir eine alte Meckerziege ist, dann werfe ich ihr auch nicht ihr Alter oder ihr Geschlecht vor, sondern stelle fest, dass sie auf eine altweiberhafte Art meckert.
Wenn Euch manche Dinge also "schwul" vorkommen, weil Ihr den Eindruck habt, dass sie nicht so sind, wie sie Eurer Meinung nach sein sollen - na gut! Ihr gebt dem Ausdruck, was Ihr empfindet, und an Ehrlichkeit ist ja nichts auszusetzen. Aber vielleicht möchtet Ihr den Begriff in Zukunft etwas BEWUSSTER benutzen! Wenn ihr ein Kombo-Deck als "schwul" bezeichnet, weil Ihr diese Art von Deck nicht mögt und damit nicht klar kommt, dann ist das eine angemessene Bedeutungsübertragung, denn niemand wird Euch vorwerfen, dass Ihr schwule Sexualität nicht mögt und damit nicht klar kommt. Wenn Ihr jedoch beispielsweise eine Karte, die Ihr als schlecht empfindet ("Nantuke Shrine"?), als schwul bezeichnet, um eine ABWERTUNG auszudrücken - nun, dann solltet Ihr noch einmal darüber nachdenken! "Schwul" ist schließlich keine Beleidigung, ebensowenig wie "Blond" es wäre. Aber den Kopf werde ich Euch deswegen auch nicht abreißen - wenn Ihr Sligh als ein "blondes" Deck betitelt, macht es mir ja auch nichts aus. Sicherlich, bei "blond" wird jeder davon ausgehen, dass die Abwertung nicht ernst gemeint ist. Genau deshalb unterstelle ich aber auch bei "schwul", dass keine ernsthafte Beleidigung dahintersteckt! Trotzdem werde ich diesen Begriff nicht verwenden, um ein solches Missverständnis auszuschließen - und vielleicht möchtet Ihr es in Zukunft ja auch.
Kann es sein, dass ich in letzter Zeit nur noch mit Magic-Spielern zu tun habe? Naja, nicht nur, aber auf jeden Fall überwiegend. Eine Folge davon ist es möglicherweise, dass ich die übertragene Bedeutung von "schwul", die Gegenstand dieses Artikels ist, nur bei diesen wahrgenommen habe. Vielleicht habe ich es hier ja auch nur mit einem in der Magic-Subkultur anzutreffenden Phänomen zu tun - aber das glaube ich eigentlich nicht. Ganz im Gegenteil: Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass ein völlig "normaler" Jugendlicher, der mit Sammelkartenspielen, Rollenspielen & Gaming allgemein überhaupt nichts am Hut hat, ihn auch benutzt. Er könnte ihn zum Beispiel auf eine Gruppe von Leuten anwenden, die all ihr Geld und all ihre Zeit in kleine, bunte Karten stecken, die sich sogar am Wochenende treffen, um stundenlang in überfüllten, beengten Räumen damit zu spielen, die sich in aller Öffentlichkeit in einem schwer verständlichen, lächerlich klingenden Jargon über ihr ach so wichtiges Kartenspiel unterhalten, und die zum Teil sogar ihre sozialen Bindungen dafür aufgeben! Was für merkwürdige Leute - die sind doch irgendwie nicht ganz richtig im Kopf - die sind doch krank! Bestimmt klauen die sogar, um sich das Geld für ihre bunten Karten zu besorgen - da muss man aufpassen! (Aber uns wird das doch hoffentlich nicht passieren - in mir steckt doch bestimmt kein Gamer, nicht wahr?)
Was sind Magic-Spieler doch für eine "schwule" Sippschaft!
Andreas
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